
„KI ist kein Tool-Thema, sondern ein Kulturthema“
Mythen entlarven, Strategien schärfen: disruptive-Geschäftsführer Timm Rotter und unser Kollege Johannes Priewich zeigen beim KI Navigator am 20. November, was Generative KI heute wirklich kann – und wo sie noch Luft nach oben hat.
Um Generative KI ranken sich heute, knapp drei Jahre nach dem Hype-Startschuss, zahllose Mythen und Missverständnisse – mit zeitraubenden und kostspieligen Folgen. Timm Rotter und Johannes Priewich machen den Reality-Check beim KI Navigator in Nürnberg. Im Vorab-Interview, welches ursprünglich beim KI Navigator erschienen ist, verraten sie, warum KI-Integration oft schon am Setup scheitert, wie aus Governance eine tragfähige Strategie wird – und was Prompting mit Kochen zu tun hat.
„Veränderung war nie so dynamisch wie jetzt“
Timm Rotter
Timm, du bist nicht nur Geschäftsführer von In A Nutshell und disruptive, sondern auch Dozent an zwei Universitäten in München. Welche Weisheiten oder Ratschläge gibst du deinen Studentinnen und Studenten in der ersten Vorlesung immer mit?
Timm Rotter: Egal ob Studierende oder Berufseinsteiger – das Wichtigste ist, zu verstehen, dass sich die Berufswelt derzeit so dynamisch verändert wie selten zuvor. Das bringt Risiken, aber vor allem Chancen für alle, die diese Disruption aktiv für sich nutzen. Jüngere Leute haben hier oft einen Vorteil: weniger festgefahrene Strukturen, mehr Flexibilität.
Gleichzeitig sage ich: Stellt euch auf herausfordernde Zeiten ein. KI ersetzt vor allem Routineaufgaben – also vieles, womit Juniors bisher starten. Studien zeigen: Unternehmen mit hohem KI-Reifegrad stellen je nach Branche deutlich weniger Einsteiger ein.
Die gute Nachricht: Wer Automatisierung, KI und Machine Learning wirklich versteht und anwenden kann, wird immer einen Job finden. Im Zweifel – bei uns melden!
„Kurios ist selten – spannend fast immer.“
Johannes Priewich
Ihr arbeitet bei disruptive, einer KI-Beratung in München, und unterstützt Unternehmen dabei, KI strategisch zu nutzen. Mit welchen Fragen kommen sie auf euch zu? Welche kuriosen Anfragen sind euch im Gedächtnis hängen geblieben?
Johannes Priewich: Kurios sind die Anfragen eigentlich nie – und das meine ich ehrlich. Wenn ein Thema so dynamisch ist wie Generative KI, ist jede Frage legitim. Manche Unternehmen haben schon tiefere Erfahrungen, andere brauchen erst Orientierung.
Besonders spannend sind Fälle, die über Kommunikation und Marketing hinausgehen, weil wir dabei auch selbst eine Menge lernen. Kürzlich kam ein großes Chemieunternehmen auf uns zu, das GenAI für Prozessoptimierungen in der Produktsicherheit einsetzen wollte. Da sprechen wir nicht mehr nur über inhaltliche Strategien, Prompts oder die Tool-Auswahl, sondern über konzeptionelle Herangehensweisen, Automatisierungsketten und die Datenarchitektur dahinter.
Solche Projekte zeigen, wie weit KI bereits in andere Bereiche vordringt. Genau dahin wollen wir mit disruptive: an die Schnittstellen von Technologie, Strategie und Kreativität.
„KI ist kein Tool-Thema, sondern ein Kulturthema.“
Timm Rotter
Wird die Nachfrage an KI-Beratung größer?
Timm: Ja – weil das Thema im Mittelstand angekommen ist, also in der Herzkammer der Wirtschaft. Gleichzeitig sind wir vorsichtig, wenn jemand einfach nur „KI-Beratung“ will. Produktivität entsteht erst, wenn Technologie, Mindset, Governance und Ausbildung zusammenspielen.
Ein Beispiel: Eine Baufirma hat Anfang 2024 rund 300 Copilot-Lizenzen gekauft. Kostenpunkt: 100.000 Euro im Jahr. Trainingsangebote gab es keine. Nach sechs Monaten nutzten zwei Personen das Tool aktiv. Das sagt alles.
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In unseren individuellen KI-Seminaren lernen Einsteiger und Profis den praktischen Einsatz von GenAI, üben den Umgang mit relevanten Tools und erfahren wichtige Hintergründe – auf Deutsch oder Englisch.
Johannes, reden wir über Prompting. Bei disruptive bist du der Creative Strategy Lead und quasi der „Meister des Promptings“. Wie entsteht aus einem einfachen Prompt eine Strategie?
Johannes: Danke für den Ritterschlag. 😉 Bei einem so schnellen Thema wäre mir das aber zu viel der Ehre. Für den Meistertitel braucht’s mehr als drei Jahre Erfahrung.
Creative Strategy Lead bin ich bei In A Nutshell, unserer Kommunikations- und Werbeagentur – also in einer ganz anderen Rolle. In meiner Funktion als GenAI-Consultant bei disruptive tauche ich aber tatsächlich so tief wie möglich in Prompting-Strategien ein.
Ich habe früh angefangen zu testen, wie Prompts strukturiert sein müssen, um wirklich gute Ergebnisse zu liefern. Vieles ist Übung: ausprobieren, vergleichen, feintunen. So entsteht ein Gefühl dafür, was funktioniert.
Wichtig: präzise formulieren, ohne das Modell zu überfrachten. Und iterativ arbeiten – im Dialog bleiben, Feedback geben, Hintergründe teilen. So lernt das Modell deine Erwartungen.
Strategie entsteht, wenn man diese Learnings teilt und standardisiert: etwa via Custom-GPTs, klare Guidelines und dedizierte Threads für bestimmte Zwecke. Das bringt konsistentere Ergebnisse, teamweit.
Gute Prompting-Strategie ist also nichts Mystisches, sondern das Ergebnis aus viel Praxis, Beobachtung und dem Willen, daraus systematisch zu lernen.
„Wenn’s hakt, liegt’s oft am Setup“
Johannes Priewich
Woran scheitern die meisten Unternehmen bei einer Integrierung von KI?
Johannes: Timm hat’s angerissen: Eine gute KI-Strategie steht auf vier Säulen – Technologie, Training, Governance und Mindset.
Wenn es bei der KI-Integration hakt, kann man in der Regel auf einen dieser vier Punkte zeigen. Oft fehlt das nötige Training. Genauso häufig hapert es aber schon am Setup. Zum Beispiel werden Lösungen eingeführt, die entweder nicht sinnvoll für den jeweiligen Zweck sind oder schlicht nicht das halten, was sie versprechen.
Besonders anfällig sind größere Unternehmen, die – aus Datenschutzgründen – eigene GPTs oder interne KI-Lösungen aufsetzen. Die sind dann von Natur aus etwas eingeschränkter als die großen Modelle am Markt. Wenn dazu noch Datenbanken, Schnittstellen oder Berechtigungen nicht sauber vorbereitet sind, entstehen automatisch Reibungsverluste. Die Ergebnisse bleiben hinter den Erwartungen zurück, die Frustration steigt und die Lust, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen, sinkt rapide.
Timm: Und dann die Alt-Systeme. KI ist offen, viele ERP-, Warenwirtschafts- oder HR-Systeme sind es nicht – im Zweifel laufen sie on-premise ohne saubere Schnittstellen. Wir sind schon als KI-Berater rein und als ERP-Berater raus. Im schlimmsten Fall steht sie auch noch on-premise im Keller. Dann ist es sehr schwer, bestehende Workflows mit den neuen Technologien zu optimieren.
Wir hatten neulich erst eine Situation, da sind wir als KI-Beratung ins Projekt reingegangen und als ERP-Berater wieder raus. Mit dem Unternehmen mussten wir erst einmal ganz elementare Basisarbeit im Punkt der Digitalisierung machen.
Das ist nicht abfällig gemeint: Die KI-Welle schafft Bewusstsein für Digitalisierungslücken. Wenn dadurch erst die IT-Grundlagen modernisiert werden, ist oft mehr gewonnen, als „ein bisschen mit ChatGPT zu spielen“.
Deshalb haben wir auch die disruptive KI Akademie aufgebaut – eine digitale Lernplattform, mit der Teams zeit- und niveaugerecht geschult werden. Die Wenigsten haben genug Leerlauf für tagelange Workshops; Wissensstände unterscheiden sich stark. Die Akademie holt alle individuell ab – zu vertretbaren Kosten.
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Wie nutzt ihr KI bei euch im Arbeitsalltag, abseits der Kundenaufträge?
Johannes: Ich nutze Generative KI praktisch jeden Tag. Bei disruptive gehört das ohnehin zum Job, aber auch im Agenturalltag ist sie längst so selbstverständlich wie Kaffee. Gerade in der Anfangszeit von disruptive hab ich viel rumprobiert und gemerkt, wie vielseitig KI das kreative Arbeiten pushen kann.
Ich nutze sie zum Brainstormen, für iteratives Prompting – kurz: um Ideen in Form zu gießen, zu strukturieren und weiterzudenken. Wenn man einem Modell, einem Custom-GPT oder auch nur einem Thread ein bisschen Geduld und gutes Futter gibt, kann es erstaunlich viel. Ich kann einem Tool sogar meinen eigenen Schreibstil beibringen, sodass die Ergebnisse wirklich „nach mir“ klingen.
Und dann gibt’s natürlich noch die visuelle Spielwiese: Bild- und Video-KIs wie Midjourney oder Sora. Damit lassen sich Ideen und Konzepte quasi im Handumdrehen sichtbar machen.
Timm: Ich habe mir gerade einen „Offer Coach“ in Google Gemini gebaut, also ein eigenes GPT, das die Angebote, die ich schreibe, kritisch prüft: Passen Wording und Leistungsversprechen zum Kunden? Sind sie selbsterklärend? Sind die Kosten nachvollziehbar? Gibt es Unklarheiten im Prozess? Der Agent ist sehr streng mit mir, aber die Angebote werden durch dieses konzeptionelle Pingpong deutlich besser.
Und dann sind da noch Tools wie Replit und Lovable. Vibe Coding wird immer spannender, also auf Basis von Textprompts digitale Interfaces wie Websites oder Mini-Apps erstellen zu lassen.
Johannes: Wichtig bei all dem ist: KI ist kein Ersatz für Profis. Sie ist ein idealer Sparringspartner, der toll strukturieren, Wissen verknüpfen und kontextualisieren kann. Eine KI zaubert mir kein perfektes Kampagnenkonzept aus dem Nichts – aber richtig instruiert und mit eigenen Gedanken angereichert, kann sie im Prozess enorm helfen.
Nutzt ihr auch im Privatleben viel KI oder dann doch eher weniger, weil ihr „keine Arbeit mit nach Hause nehmen“ möchtet?
Johannes: Doch klar – natürlich nutze ich Generative KI auch privat. Man macht sich das Leben ja nicht schwerer, als es sein muss. 😉
Ganz einfache Beispiele sind Alltagsrecherchen: Ich greife inzwischen oft lieber zu Perplexity AI als zur klassischen Google-Suche – gerade, wenn ich zu einer sehr spezifischen Frage eine vollständige Antwort inklusive Quellen möchte.
Auch für Reiseplanung ist KI inzwischen ein echter Gamechanger.
Und dann gibt’s natürlich auch die etwas kurioseren Alltagsmomente:
Neulich stand ich vorm Kühlschrank, wusste nicht so recht, was ich aus dem darin gelagerten Sammelsurium kochen sollte – also hab ich einfach ein Foto gemacht, in ein KI-Modell geladen und gefragt: „Was kann ich daraus machen?“
Das erste Ergebnis war… sagen wir mal: kulinarisch überschaubar. Aber als ich der KI präziser erklärt habe, was ich in etwa will und was ich sonst noch da habe, kam ein wirklich gutes, kochbares Rezept raus.
Timm: Ich finde die Frage interessant. Ich glaube, träfen wir uns in zwei Jahren wieder, käme sie uns fast albern vor. Oder wann habt ihr das letzte Mal jemanden gefragt: „Nutzt du das Internet auch in deiner Freizeit?“ Oder das Mobiltelefon?
Fair point. Schauen wir nach vorne. Wozu ist eurer Meinung nach Generative KI in Zukunft im Stande?
Johannes: Eine große Frage – aber im Kern glaube ich: Alles, was heute schon funktioniert, wird bald sehr viel besser funktionieren. Unternehmensinterne KI-Systeme werden schneller, präziser und verlässlicher, wenn es darum geht, auf spezifische Inhalte zuzugreifen. Gleichzeitig wird KI in der Lage sein, visuelle Elemente automatisch ins Corporate Design eines Unternehmens zu übersetzen – ein Bereich, der heute noch oft hakt. Wenn Modelle lernen, Gestaltungsprinzipien zu verstehen und konsequent anzuwenden, verändert das ganze Design-Workflows.
Auch im Video- und Avatarbereich wird es gewaltige Fortschritte geben: realistischere Darstellungen, höhere Produktionsqualität – und damit die Herausforderung, Echtes von Generiertem zu unterscheiden. Das birgt kreative Chancen, aber auch gesellschaftliche Risiken.
Und natürlich wird Generative KI auch die Content- und Musikproduktion weiter aufmischen. Schon jetzt kursieren Songs auf Spotify, die komplett KI-generiert sind – so überzeugend, dass sie teils kaum von menschlich produzierten zu unterscheiden sind. Das zeigt, wie schnell sich das Feld bewegt – und dass wir noch längst nicht absehen können, was in den nächsten Jahren alles möglich wird.
Kurzum: Es wird nicht alles neu, aber alles reifer, präziser und anwendungsnäher. Genau das macht die Entwicklung so spannend.
Timm: Ich denke, der nächste große Schritt wird die Verbindung von KI mit Audio- und Vision-Interfaces sein – also Kopfhörer, Brillen oder sogar digitale Linsen. Apples neue AirPods mit Live-Übersetzung sind nur der Anfang. In den USA sieht man schon, wie schnell sich KI-Brillen entwickeln. Das Sprachverständnis der Modelle macht es erstmals möglich, sie wirklich intelligent zu steuern, statt umständlich auf ihnen herumzutippen.
Für Marken entstehen dadurch völlig neue Touchpoints zu ihren Zielgruppen – und gleichzeitig neue Geschäftsmodelle. Manche Produkte werden verschwinden: Wer braucht noch einen Teleprompter, wenn man sich seinen Vortrag direkt auf dem Brillen-Display anzeigen lassen kann?
Im Rahmen ihrer Keynote „Mythen, Missverständnisse und echte Fortschritte: Generative KI im Realitätscheck“ am 20. November um 10 Uhr nehmen Timm Rotter und Johannes Priewich auf der KI Navigator 2025 in Nürnberg Generative KI unter die Lupe.
Bildquelle: gemini/disruptive