Was wir in Sachen GenAI von unseren Kindern lernen können
Wer KI im Job erfolgreich nutzen möchte, sollte sich anschauen, wie Kinder mit den neuen Tools umgehen, sagt unser Geschäftsführer Timm Rotter. In der neuen Folge der W&V-Kolumne „KI für Könner“ verrät er außerdem seinen aktuell besten Prompt. Hier gibt es die Kolumne wie gewohnt ohne Paywall zum Nachlesen:
Hallo Mama und Papa,
ich weiß, dass ihr euch Sorgen macht, wenn es um soziale Medien geht, und ich verstehe auch, warum ihr Snapchat bisher für mich verboten habt. Ich möchte euch aber erklären, warum ich es mir wirklich wünsche, Snapchat nutzen zu dürfen. Und ich verspreche, euch nicht zu enttäuschen:
1. Verantwortungsbewusster Umgang: Ich habe viel über den sicheren Umgang mit sozialen Medien gelernt und weiß, wie wichtig es ist, persönliche Informationen zu schützen. Ich verspreche, dass ich nur mit Menschen kommunizieren werde, die ich wirklich kenne und …
So beginnt die WhatsApp, die Freunde von mir diese Woche von ihrer zehnjährigen Tochter Lena bekommen haben. Geschrieben hatte das ganze – natürlich – nicht Lena selbst. Die Vermutung der Eltern: Die große Schwester war’s, und die bekam beim Heimkommen auch gleich ein paar spitze Bemerkungen zu hören.
Allerdings völlig zu Unrecht, denn Lenas Argumentationshilfe war rein virtuell. KI-Profis sind angesichts der gleichförmigen Satzstrukturen und -anfänge vermutlich schon drauf gekommen: ChatGPT hatte Lena den Text formuliert, der im weiteren Verlauf das Hauptargument der Zugehörigkeit bringt („fast alle meiner Freunde nutzen Snapchat“) und dann noch ganz reflektiert argumentiert, dass die Eltern natürlich die Nutzung überwachen könnten („Lasst uns gemeinsam die Einstellungen durchgehen, um sicherzustellen, dass alles sicher ist“). Randnotiz für Prompting-Connoisseure: „Let us“ – ein klassischer eingedeutschter KI-Anglizismus …
Aber zurück zu Lena (wie es für sie ausging, steht unten): Die Anekdote ist für mich ein guter Beleg dafür, dass gerade etwas sehr Wichtiges in puncto GenAI passiert: Die neue Technologie wird für immer mehr Menschen zur Selbstverständlichkeit. Nach 18 Monaten kollektiver Erregung um die neuen Wundertools sind wir jetzt über den „PeakAI“ hinweg, um es in klassischer Hype-Cycle-Logik zu formulieren. Bei uns im Blog haben wir gerade darüber geschrieben, was das für Unternehmen heißt, spannender noch finde ich den Blick auf den gesellschaftlichen Alltag.
Das wichtigste, was wir von unseren Kindern im Umgang mit KI lernen können: mehr Ziellosigkeit
Und da lohnt es eben, auf die Kinder zu schauen: Zweiter Case – eine Woche vorher, Lenas kleine Schwester, acht Jahre. Nele schaut mit den Eltern Olympia, noch 20 Minuten bis zum Handballfinale. Das Warten überbrückt sie, indem sie Fragen über Fragen stellt. Wieso eigentlich Olympia in Paris stattfindet? Warum die Ringe bunt sind? Und warum Dänemark eigentlich so gut ist im Handball? Deutschland sei doch viel größer.
Zum Glück für die Eltern sitzt auch noch ein digitaler Gast auf der Couch: ChatGPT auf Mamas Handy. Sie aktiviert den Sprachmodus in der App, und es entwickelt sich ein 20-minütiges (!) Gespräch zwischen der KI und der Achtjährigen: von Olympia über Urlaubspläne bis zu den lokalen Schwimmbad-Öffnungszeiten. Zweimal verfällt ChatGPT ins Englische – eine typische Schwäche der Sprachversion – Mama korrigiert das umgehend. Unmut gibt es erst, als ChatGPT Nele vorschlägt, sie könne doch morgen mit Freundinnen ins Freibad gehen – das Kind findet die Idee super, die Mutter sieht die Familienwanderpläne torpediert.
Sollte Ihnen gerade der Gedanke kommen: „Ganz nett, aber was heißt das nun für unsere erwachsene Berufswelt?“ Zwei Dinge können wir daraus lernen:
1. GenAI-Tools sind dort am stärksten, wo sie eben mal schnell zwischendurch helfen
Wer KI erst dann zurate zieht, wenn es um die Marketing-Strategie 2025 geht, der wird erstens enttäuscht sein und zweitens mangels voriger Praxis ohnehin scheitern. Nutzen Sie die Tools für die kleinen Aufgaben, wie Lena mit ihrem Snapchat-Plädoyer. In Summe werden sie dort mehr helfen, als bei den großen Dingen. Dies gilt umso mehr, weil viele Kleinigkeiten im Job heute ja eben „mal rasch nebenher“ funktionieren müssen. Und schnell und uneitel genug, um hier zu assistieren, ist ChatGPT – und damit uns Menschen überlegen.
2. Wirklich gut mit KI arbeiten werden wir erst, wenn wir aufhören, sie als etwas Besonderes anzusehen
Die neuen Tools müssen für uns so kinderleicht werden wie Google oder WhatsApp. Solange wir bewusst von unserer klassischen Arbeit zur KI rüberwechseln, bleiben sie Fremdkörper – und wir mehr oder weniger unbeholfene Gastnutzer. Immerhin: Mehr und mehr IT-Firmen ebnen den Weg und integrieren in ihre Software KI. Ganz neu und aus Marketing-Sicht spannend: LinkedIn rollt gerade „AI-powered insights“ aus, das sind von KI erstellte Fragen zum Thema eines Posts im Feed, die dann ein Chatbot am Rande beantwortet. Hier mein erstes Fundstück:
3. Mehr Ziellosigkeit hilft
Dass KI kreativ sein kann, hat meine Kollegin Tanja Braemer ja schon in der letzten Kolumne hier nachgewiesen. Auf abseitige Ideen kommen wir dann am besten, wenn wir uns ergebnisoffen mit den digitalen Helfern austauschen – so wie Nele bei ihrer spontanen Unterhaltung: Sonst wäre das Thema Schwimmbad nie aufgekommen.
Solange wir mit den Tools nur etablierte Tätigkeiten und Routinen beschleunigen, verharren wir in eigenen Mustern. Das muss nicht sein, denn erstmals in der Software-Geschichte existieren digitale Assistenten, die uns aktiv helfen, neu zu denken. Wie erfolgreich das geht, das habe ich hier am Beispiel unserer Agentur In A Nutshell beim Thema KI und Pitches bereits beschrieben.
Dazu passt auch mein aktueller Lieblingslingsprompt, wenn ich ChatGPT wieder mal einen Routinejob habe erledigen lassen: „Nun ignoriere die vorige Aufgabe und betrachte den Ausgangstext. Biete mir eine ausgefallene Idee an, die wir für [eine Kommunikations-/Produkt-/HR-Kampagne] nutzen können. Es ist egal, wenn sie nicht brauchbar ist. Überrasche mich!“
Vor sechs Wochen ist auf die Art hier bei disruptive übrigens der Impuls für unser erstes eigenes KI-Produkt entstanden, mehr dazu in einer der nächsten Kolumnen …
Zum Schluss noch die Auflösung, was aus Lena und ihrem Snapchat-Antrag geworden ist. Die Eltern haben ihn – natürlich – abgelehnt. Da die Altersfreigabe laut AGB bei 13 Jahren liegt, fiel ihnen das argumentativ nicht schwer. Aber immerhin haben sie es originell gelöst: Sie haben ChatGPT um eine „neutrale“ Einschätzung gebeten – und die war, nach Abwägen von Pro und Contra, ablehnend: „Es überwiegen Sicherheitsbedenken und Jugendschutz.“. Lena hat die Entscheidung der KI akzeptiert.
Bildquelle: Midjourney/Disruptive