Dieser Artikel ist zuerst im Magazin W&V als Gastbeitrag von disruptiv-Gründer Timm Rotter erschienen.
Happy Birthday, ChatGPT! Heute vor einem Jahr, am 30. November, ging die erste öffentliche Version des Chatbots online und begründete den Boom von generativer künstlicher Intelligenz, kurz „GenAI“. Die neue Technologie verändert unser Leben und Arbeiten – gerade in kreativen Berufen – schneller und massiver, als jede Tech-Innovation zuvor, sagen inzwischen viele Experten. 1 Jahr ChatGPT: Zeit also, zum 1. Geburtstag zu sortieren, was bisher passiert ist und was 2024 wirklich wichtig wird:
1 Jahr ChatGPT – Vier Thesen zur Zukunft von Generativer KI
Wir haben ChatGPT gebeten, selbst ein Geburtstagsbild zu kreiieren – so weit, so bunt. Nur das mit der Rechtschreibung bekommt das Tool immer noch nicht hin…
1. ChatGPT war nur das Vorspiel – die wahre Disruption heißt Copilot
Die Posse um Rauswurf und Re-Inthronisierung von Sam Altman als CEO von OpenAI binnen einer Woche hat die Tech-Welt unlängst in Aufruhr versetzt. Stürzt Altman? Scheitert OpenAI? Was wird dann aus der KI-Revolution?
So wegweisend die Arbeit des kalifornischen Start-ups sein mag: Das GenAI-Game wird es nicht entscheiden. Längst haben die Großkonzerne ihre Claims abgesteckt. Die besten Karten scheint aktuell Microsoft zu haben, das 13 Milliarden Dollar in OpenAI investiert und dafür exklusive Nutzungsrechte an der GPT-Technologie erworben hat.
Diese fließen jetzt in den KI-Assistenten „Copilot“ im neuen Windows 11: In allen relevanten Programmen, von MS Teams über Outlook bis zu PowerPoint, gibt es fortan einen KI-Bot, der zudem Microsofts Sicherheitsstandards entspricht.
Für Unternehmen wird 2024 daher viel mehr verändern, als ChatGPT es in diesem Jahr geschafft hat: Denn während viele Firmen die heutigen KI-Tools wegen ungeklärter juristischer Fragen gar nicht oder nur zögernd zulassen, wird Copilot (fast) jeden Business-Rechner mit GenAI ausstatten. Mit ein paar Klicks werden dann aus Transkripten in Word fertige PowerPoint-Präsentationen, fasst die KI alle relevanten Aufgaben aus den Mails vom Vortag zusammen oder sortiert den eigenen MS-Teams-Wust nach persönlicher Priorität. Die Firmen, die Copilot jetzt schnell einführen, dürften damit auf längere Sicht Wettbewerbsvorteile haben.
2. Wir haben GenAI überschätzt – die künftigen Potenziale sollten wir aber nicht unterschätzen
„Wir lassen das erstmal mit ChatGPT – da kommt doch nur Mittelmaß raus.“ Das hat mir im Juli ein Kommunikationschef gesagt. Noch schlimmer: Er hat es ernst gemeint.
Tatsächlich hat 2023 gezeigt, wie schnell KI an Grenzen stößt. Man denke an KI-generierte Fotos von Menschen mit sechs Fingern oder an grobe fachliche Fehler in Texten, euphemistisch „Halluzinationen“ genannt.
Aber: Welches Software-Genre war nach einem Jahr im Echtbetrieb schon perfekt? Zudem resultieren die Fehler meist daraus, dass wir GenAI falsch verstehen, etwa weil wir ChatGPT zur Faktensuche nutzen, oder schlichtweg beim Prompting, also der Eingabe der Textbefehle, zu ungenau sind.
Was wir verstehen sollten: Die heutigen Tools sind digitale Assistenten, die selten mehr als 80 Prozent der gewünschten Ergebnisqualität liefern. Eine der wichtigsten KI-Kompetenzen, die Menschen brauchen, ist daher das Gespür für den Zeitpunkt im Prozess, an dem wir wieder übernehmen müssen.
Allerdings: Die Grenzen verschieben sich rasch – HeyGen hat das bei Avatar-basierten Videos vorgemacht, Photoshop beim KI-basierten Erweitern von Fotos. 2024 sollten wir aufpassen, dass wir selbst mithalten, also die Tools nutzen und unser KI-Know How weiterentwickeln. Sonst sind wirklich bald wir der Grund dafür, wenn nicht mehr als Mittelmaß herauskommt.
3. Hört auf, liebe Unternehmen, euch selbst im Weg zu stehen!
Acht von zehn Firmen in Deutschland haben Sorge, bei GenAI Nachzügler zu sein oder schon den Anschluss verpasst zu haben. Diese Zahlen vom IT-Verband Bitkom weisen auf ein urdeutsches Problem hin – es fehlt an Weitsicht und Risikobereitschaft, stattdessen wird Angst vor dem Neuen zur self-fulfilling prophecy.
Denn technologisch gibt es keinen Grund zur Sorge, abgehängt zu werden: Es sind nur ein paar wenige Tools, die in den Standard-„KI-Werkzeugkasten“ jedes Unternehmens gehören: Wir nutzen bei uns ChatGPT, Perplexity und DeepL im Textbereich, Midjourney und die Adobe-KI-Lösungen für Gestaltung, Synthesia und HeyGen für Videos und zwei, drei weitere spezialisierte Anwendungen – etwa für Podcasts.
Ich habe dieses Jahr mit einigen Kunden gesprochen, die kein einziges der Tools einsetzten, weil IT, Betriebsrat oder Hausjuristen (oder gerne auch alle) ihr Veto eingelegt hatten. Natürlich ist es richtig, sich über DSGVO, Datenstruktur und -sicherheit Gedanken zu machen. Das Ergebnis kann aber nur sein, dass man Wege findet, KI zumindest in Pilotprojekten zu integrieren. Sonst verliert man wirklich den Anschluss.
4. Deutschland hat ein Führungsproblem – verlasst euch nicht auf die Politik!
„Künstliche Intelligenz wird in 75 Jahren ein ganz normaler Teil des Alltags sein.“ Hat Olaf Scholz neulich in einem Zeitungsinterview formuliert. 75 Jahre? Das wäre dann im Spätherbst 2098 …
Der Satz zeigt wieder einmal, wie wenig Bewusstsein unsere Regierung hat für das, was gerade passiert. Es wird keine 75 Jahre dauern, noch nicht einmal 7,5 Jahre: Bereits 2025 dürfte – davon zumindest gehe ich aus – ein Großteil der Texte im Internet KI-generiert oder wenigstens unterstützt sein, dürfte Prompting zur Kulturtechnik geworden und GenAI in den meisten Apps und Computerprogrammen integriert sein.
Damit die KI-Nutzung in Deutschland aber wirklich vorankommt, braucht es auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene Innovation. Ich denke an ein Bildungssystem, das KI-Kompetenz fördert, an eine angemessene gesetzliche Regulierung und an Politiker, die das Thema treiben und ausstrahlen, dass Deutschland KI-Weltklasse sein will. Und das bitte nicht erst 2098 …
Umso essentieller wird es sein, dass Unternehmen jetzt selbst aktiv werden – indem sie Mitarbeitende zur Arbeit mit GenAI ermuntern, mit KI-Guidelines Orientierung liefern und Sicherheit vermitteln, Trainings und Workshops anbieten und interne Teams definieren, die die Technologie entsprechend der firmeneigenen Bedarfe vorantreiben und vertrauenswürdige Tools ausrollen.
Elementar wird auch sein, Sorgen bei Mitarbeitenden zu erkennen und zu moderieren. Denn eines kann man nach einem Jahr ChatGPT sehr sicher sagen: KI wird uns keine Arbeit wegnehmen, aber KI-Nutzer werden diejenigen abhängen, die KI nicht verstehen.